Die Arbeit in
der Seidenspinnerei in Largentiere
Als ich zwölf Jahre alt war und mein Schuldiplom bekam (es gab
nur wenige Kinder, die das Diplom bekamen und sicher nicht vor
ihrem dreizehnten Jahr), wurde ich in den Süden geschickt, um bei
der Ernte zu helfen. Von Sonnenaufgang bis untergang, mit einer
halben Stunde Mittagspause, mußte ich arbeiten. Nach einem schweren
Arbeitstag schliefen wir unter dem Dach eines Weinkellers, in dem der
Wein zum Gären stand, was eine schrecklich scharfe Luft verbreitete,
in der man dann die ganze Nacht lag. Wir schliefen auf Stroh
einer neben dem anderen, Männer, Frauen, Kinder alle durcheinander.
Aber die Ernte ging irgendwann auch zu Ende, und wir mußten schließlich
Geld verdienen. Meine Eltern haben dann beschlossen, mich zur Seidenspinnerei
zu schicken, die 22 Kilometer von uns entfernt war. Ich ging zu Fuß
hin, in Schuhen, denn ich trug damals keine Holzschuhe mehr. Die Schuhe
hatte ein Schuhmacher auf Maß gearbeitet, und ich war enorm stolz
darauf. Vorne saßen Eisenspitzen, damit sie nicht so schnell verschlissen.
Wir mußten sehr sparsam mit ihnen umgehen, denn sie waren furchtbar
teuer.
Die Arbeit in der Spinnerei war schwer, aber interessant. Wir mußten
die Kokons der Seidenraupen, die unsere Eltern gezüchtet hatten
und die in Wasserbecken kamen, einen nach dem anderen abwickeln. Wir
mußten versuchen, das Ende des Fadens zu erwischen. Man mußte
gute Augen und Geduld haben, um das Fadenende zu finden und den Faden
dann auf Spulen zu wickeln. Wir arbeiteten für Stücklohn,
obwohl der Verdienst gering war. Das Geld, das wir verdienten, war für
die Familie bestimmt, um unser Brot zu bezahlen und für die kleinen
bescheidenen Ausgaben beim Lebensmittelhändler. Taschengeld
wir wußten damals nicht einmal, was das war. Ich erinnere mich
noch an den Tag, als ich zum ersten Mal etwas für mich selbst kaufen
durfte: es waren zwölf seidene Taschentücher. Ich habe sie
noch immer in einer Schublade.
Manchmal trafen wir auf dem Rückweg einen Fuhrmann, der uns mitnehmen
wollte. Aber man mußte aufpassen, denn oft hielten die Fuhrleute
bei jeder der vielleicht 20 Kneipen an, die am Weg lagen. Man durfte
es nicht eilig haben. Meistens gingen wir mit einer ganzen Gruppe aus
dem Dorf los. Um den langen Weg schneller zu schaffen, sangen wir Lieder.
Ans Laufen waren wir ja in dieser Zeit gewöhnt. Ich habe sogar
eine alte Frau gekannt, deren einzige Existenzmöglichkeit darin
bestand, Holz zu sammeln. Einmal in der Woche lud sie eine riesige Menge
Holz auf ihren Rücken und brachte sie zu einem Bäcker, der
zehn Kilometer entfernt wohnte. Der Bäcker gab ihr dann Brot für
eine Woche.
Ich ging sonntagsmittags von zuhause los, mit dem Essensvorrat für
eine ganze Woche. In unserem Knappsack war vor allem Brot. Unser großer
Traum war immer, einmal eine billige Tafel Schokolade zu kaufen
auch wenn die Schokolade nicht besonders gut war. Beim Einkaufen gab
es ein System von Prämienpunkten, mit dem man nützliche Sachen
bekommen konnte: Wecker, Bügeleisen, Schüsseln, Kochtöpfe.
Für viele Mädchen bildete dies den Grundstock ihrer Aussteuer.
Wenn man am Montagmorgen aufstand, mußte man sich beeilen, sein
Essen fertigzubekommen, denn es gab nur einen Ofen für eine ganze
Menge Mädchen. Die Frühaufsteherinnen konnten ihre Suppe warm
essen, die andern aßen sie eben kalt. Wir schliefen in der Spinnerei
in großen Schlafsälen ohne Heizung. Die Waschbecken waren
im Winter meistens eingefroren.
Karneval, Feste und Hochzeiten
Wir waren sehr arm, aber wir amüsierten uns bestens. Das Leben
war nicht eintönig jede Gelegenheit wurde wahrgenommen,
etwas Fröhliches daraus zu machen. So hatten wir z.B. das Hirtenfest:
Der Hirte ging bei allen Häusern vorbei und bekam überall
Wurst, Eier oder etwas Ähnliches. Dann wählte er ein Haus
aus, und die Hausfrau machte dann aus den Gaben enorm große Omeletts,
Schnee-Eier, gebratene Würste und Soßen. Alle diese Herrlichkeiten
aßen wir dann zusammen auf dem Dorfplatz. Jeder war da
so eine Gelegenheit ließ sich niemand entgehen.
Auch Karneval war ein großes Fest, an dem man sich als Narren
verkleidete und viel Spaß hatte. Die jungen Leute aus dem Dorf
verkleideten sich mit allem, was sie finden konnten alte Lappen,
Stroh usw. Sie machten sich Masken aus Pappkarton oder Holz und zogen
so von Dorf zu Dorf. Damit man sie nicht erkennen konnte, setzten sie
ihre Masken niemals ab. Den Rotwein, den sie überall angeboten
bekamen, tranken sie deshalb mit Hilfe einer Makkaroni. Ja, wir hatten
zwar keine Strohhalme, aber jede Menge Phantasie! Der Karneval dauerte
drei oder vier Tage die Nächte nicht zu vergessen. Eine
Familie aus dem Dorf übernahm jeweils das Kochen von Schweineohren
für alle das war damals für uns ein großer Leckerbissen.
In einem Jahr hatte eine alte Frau einen prächtigen Hahn, den sie
aber nicht verkaufen wollte. Wir waren jung und immer zu Späßen
aufgelegt. Ohne also etwas wirklich Böses im Sinn zu haben, beschlossen
wir, einen von uns auszulosen, der dem Hahn den Hals umdrehen sollte.
Das Los fiel auf meinen zukünftigen Ehemann. Als die alte Frau
sah, daß ihr Hahn tot war, blieb sie nicht lange nachtragend:
sie hat ihn dann lachend, und wohl gegen einen recht hohen Preis, an
uns verkauft.
Wir freuten uns immer sehr auf das Marienfest im Mai. Die Kirche war
ziemlich weit entfernt vom Dorf, deshalb mieteten wir bei einem Einwohner
von Valousset ein Zimmer, in dem alle zusammenkommen konnten, und das
dann auch als Kapelle benutzt wurde. Den ganzen Monat Mai trafen wir
uns dort, um zu beten, aber auch zum Singen, Tanzen und Spaßhaben.
Herrlich fanden wir auch das St.-Johannesfest (23. Juli). Jeder mußte
über ein großes Freudenfeuer springen. Wenn ich sage "jeder",
dann meine ich wirklich jeder: Kinder, junge Leute, die Alten und selbst
die Kranken. Wer nicht laufen konnte, wurde von zwei kräftigen
Jüngeren unter den Achseln gefaßt und über das Feuer
gehoben. Wir glaubten fest daran, daß man sonst das ganze Jahr
Vipern im Haus haben würde; an dieser Tradition war also nicht
zu rütteln.
Auch nach der Himbeerernte wurde ein Fest gefeiert. Ein junger Mann
aus der Gegend hatte von seinem Vater ein Akkordeon bekommen, welcher
es sich nach einer besonders guten Ernte in der Stadt gekauft hatte.
So tanzten wir zu Akkordeon-Musik.
Am Neujahrstag machten wir immer eine Runde durchs Dorf. Manchmal bekamen
wir Feigen, die zum Trocknen in den Schornsteinen hingen. Sie schmeckten
nach Rauch, aber für uns war es ein echter Luxus.
Im Herbst, wenn die Kastanien geerntet wurden, herrschte überall
Fröhlichkeit. Man schlug auf die trockenen Kastanien mit einem
"pisé", einem runden Stück Holz mit einem Loch
in der Mitte für den Stiel. Die Unterseite war mit großen
Nägeln beschlagen, um die "peloux", die Kastanien mit
Schalen, herunterzuholen. Dann wurden sie in eine "tarare"
gefüllt, eine Maschine zum Kastanienschälen. Dies nannte man
das "Weißmachen der Kastanien". Die weißgemachten
Kastanien wurden zu den Mühlen gebracht, um Mehl daraus zu mahlen.
Abends, wenn das Mehl fertig gemahlen war, tanzten und sangen wir. Dann
aßen wir auch Schinken und Wurst, eine große Seltenheit.
Solch ein Fest gab es auch, wenn die Schweine geschlachtet wurden.
An den Winterabenden trafen sich die jungen Leute im Elternhaus eines
der Mädchen. Dann erzählten sie, sangen und tanzten. Am Ende
des Abends boten die Eltern des Mädchens ihnen warme Schokolade
an, und alle gaben ein bißchen Kleingeld, um das Getränk
und das Öl für die Lampe zu bezahlen.
Hochzeit
Oh, und dann die Hochzeiten! Hochzeiten war die größten Feste.
Sie wurden fast ausschließlich zwischen jungen Menschen aus der
Gegend geschlossen. Am ersten Tag des Festes gingen wir in das Dorf
des Mädchens. Jeder aß bei den Eltern der Braut etwas, was
bis in den späten Nachmittag dauerte. Dann ging das Fest von Haus
zu Haus, und allen Bewohnern wurde von den Gästen Brautzucker angeboten.
Keine Wohnung durfte ausgelassen werden dies wäre eine schreckliche
Beleidigung gewesen. Am folgenden Tag passierte das gleiche im Dorf
des Bräutigams. Wenn der Junge aus demselben Dorf kam wie das Mädchen,
aß man bei den Eltern des jungen Mannes "bisquits à
la miller" und machte dann die Runde mit dem Brautzucker. Ich brauche
wohl nicht zu sagen, wie fröhlich die Teilnehmer bei diesem Rundgang
waren, denn jedes Haus bot "canon" nach "canon"
an. Wenn dann alle diese zu einer Hochzeit gehörenden Teile des
Festes vorbei waren, zogen wir singend zur Kirche nach Laboule, wo die
Eheschließung vollzogen wurde. Nach der Trauung abends so um acht
Uhr ging das frischvermählte Paar dann zu Bett, und alle Dorfbewohner
ließen ihre Türen offenstehen. Die Hochzeitsgäste taten
dann so, als ob sie das junge Paar suchten, obwohl sie genau wußten,
daß es in seiner Schlafkammer war. Die Gäste machten also
eine Runde durch das Dorf und durchsuchten alle Häuser, wobei sie
die Gelegenheit nutzten, sich in jedem Haus ein "canon" ausschenken
zu lassen. Bei Sonnenuntergang gingen alle zum Haus des jungen Paares
und brachten ihm einen Nachttopf. Dieser war nicht leer, nein, er war
gut gefüllt mit zerkrümelten Keksen, Kuchenstückchen,
Milch, Sahne und frischen Früchten, darüber war eine dicke
Schokoladensoße gegossen, die an allen Seiten überlief. Die
Jungvermählten mußten mindestens die Hälfte davon austrinken
oder aufessen. Weil sie in der Regel gut beschwipst und ziemlich müde
waren, schafften sie das meistens nicht mehr, und oft aß die junge
Frau mehr, als sie vertragen konnte...
Krankheit und Tod
Wir feierten oft Feste aber wir hatten auch oft Kranke, die wir
nicht mehr gesundmachen konnten. Vielleicht stürzten wir uns auch
so ins Vergnügen, um die Angst zu verjagen. Wenn jemand von uns
krank wurde, konnten wir nur die uns bekannten alten Hausmittelchen
benutzen, denn der Arzt war weit weg (10 km), und man ließ ihn
auch nur kommen, wenn man es bezahlen konnte. Oft konnte er, wenn er
schließlich kam, nur noch den Tod feststellen.
Wenn wir Beschwerden an den Augen hatten, wurden wir zu einer Nachbarin
geschickt, die einen Säugling hatte. Die gab dann ein Tröpfchen
Muttermilch in unsere Augen, und wir waren so überzeugt davon,
daß es helfen würde, daß wir uns tatsächlich gleich
viel besser fühlten.
Wenn wir einmal Ausschlag hatten, gingen wir zu einem Heiler, der mit
einem Finger, auf den er vorher gespuckt hatte, über die Pusteln
strich, und dann machte er ein Kreuzzeichen darüber. Es half, oder
es half nicht.
Auf Splitter kam ein Teerpflaster, ein Zeug wie Asphalt. Es mußte
sehr heiß sein, um die Haut um den Splitter herum aufzuweichen
dann kam der Splitter von selbst heraus, und es mußte nur
noch die Brandwunde wieder verheilen.
Wenn jemand sehr starke Bauchschmerzen hatte, wurde ein Kaninchen geschlachtet.
Es wurde entzwei gehackt und so auf den Bauch des Kranken gelegt. Die
Eingeweide und Därme wurden auf der besonders heftig schmerzenden
Stelle ausgebreitet. Damit ein Kaninchen geopfert wurde, mußten
die Schmerzen aber schon ganz entsetzlich sein.
Diese Mittel halfen nicht immer, und es gab viele Todesfälle. Wenn
dieser traurige Fall eintrat, bekam der Tote seine schönsten Kleider,
d.h. seine Sonntagskleider angezogen, und er wurde ausgestreckt auf
sein Bett gelegt. An das Fußende wurde Weihwasser gesprengt, und
es wurden große Kerzen angesteckt. Drei Tage lang sagten die alten
Frauen Gebete auf, wobei sie weinten und manchmal auch schrieen.
Um den Toten zu begraben, mußte man nach Laboule, über schmale
Pfade, die nicht leicht zu begehen waren, und so wurde ein abwechselnder
Dienst für die Träger der Bahre organisiert. Vier Menschen
trugen die Bahre von Valousset aus, und ungefähr nach einem Kilometer
übernahmen vier andere sie und so weiter bis zum Friedhof.
Einmal geschah etwas Merkwürdiges: ein guter mann, der bei allen
im Dorf sehr beliebt war, war gestorben. Am Tag seiner Beerdigung waren
alle Leute sehr traurig und hatten sich deshalb wohl Mut angetrunken.
Alles ging soweit gut, aber als man am Friedhof ankam, merkte man, daß
der Sarg leer war. Dazu muß man wissen, daß die Särge
ohne Deckel getragen wurden, um sie leichter zu machen. Die Träger
hatten den braven Mann unterwegs einfach in einer Kurve, die für
ihre Trunkenheit wohl doch zu steil war, verloren.
Zur Beerdigung nahmen die Menschen Efeukränze mit, in die weiße
Papierblumen gesteckt waren. Sehr beliebt waren kleine Girlanden, die
Kinder manchmal aus Stückchen von altem Packpapier bastelten. Am
Tag nach der Beerdigung ging die Witwe oder die Familie von Haus zu
Haus und von Dorf zu Dorf, um sich bei allen zu bedanken, die dem Toten
die letzte Ehre erwiesen hatten. Wenn das auch vorbei war, ging man
zurück an die Arbeit es gab keine Zeit zu trauern."